Heute sollte die längste Etappe werden, doch schon der gestrige Tag wurde durch freiwillige und unfreiwilligen Extratouren zur Monsteretappe; zudem fiel das gestrige „Nachtgetränk“ der Digitalisierung zum Opfer. Deshalb hatte ich mir für heute zweierlei vorgenommen: 1. Keine unnötigen Umwege. 2. Mittagessen nicht vergessen.
+ + + Dieser Artikel wurde aus technischen Gründen (instabiles WLAN, schlechtes Mobilnetz) erst eine Woche später verfasst, aber mit Originaldatum publiziert + + +
Selbstversorger-Frühstück
Im menschenleeren Digitalhotel wollte die Automaten-Armada weder Bargeld noch Kreditkarte noch EC-Karte akzeptieren. Deshalb hatte ich bereits auf der gestrigen Abendversäuberungsrunde mit einem Großeinkauf am Bahnhofs-Selecta vorgesorgt. Danke an den freundlichen Busfahrer fürs Geldwechseln!
Heute also ein schoggi-gefülltes Gipfeli sowie die Restbestände aus der Giswiler Käserei. Nur der Kaffee fehlte: Dessen Automaten hätte zwar Münzen genommen, aber kein Rückgeld gegeben. Und 5 Franken für eine Automatenplörre im Plastikbecher war mir doch zu dreist.
Schneewanderung mit Aussicht
Raus aus dem Digitalwahn, rein ins Naturvergnügen: Das begann – obwohl wir oben auf dem Brünigpass waren – mit einem weiteren Aufstieg. Hier oben lag eine recht frische Schneedecke, die Spuren eines Vorgängers wiesen den Weg. Vermutlich war das mein „Pacemaker“ von gestern. Wie es ihm wohl ergeht? Ob er tatsächlich bis nach Santiago kommt?
„Keine unnötigen Umwege“, aber ein Abstecher war doch notwendig: Eine kleine Stichstrecke führt zum Aussichtspunkt Tschuggen. Die war aber wegen Schnee und dürftiger Markierung mehr zu erraten als zu erkennen. Hier halfen auch keine Pacemaker-Spuren; er hatte gestern – verständlicherweise – verzichtet, weil er bis Brienz noch viel vor sich hatte.
Für mich hat sich der Abstecher hingegen gelohnt: Hoch über dem Aaretal sahen wir nach links der Sonne entgegen und rechts den erschreckend langen Brienzersee. „Erschreckend lang“, weil dessen Ende unser heutiges Tagesziel war (und wir es von hier oben noch nicht mal sehen konnten).
Halber Tag in einer Stunde
Jetzt ging es steil abwärts. Die Höhenmeter, die wir am halben Vortag erarbeitet hatten, waren in einer guten Stunde wieder verloren. Es ging sehr steil und scheinbar endlos hinunter, mit zitternden Knien und gestählten Oberschenkel landeten wir in Brienzwiler. Schönes Dorf, viele Holzhäuser — aber kein Gasthof / Bäcker / Beizli, der/die/das uns einen verspäteten Frühstückskaffee hätte verkaufen können.
Unterkoffeiniert zogen wir weiter nach Hofstetten — auch dort kein Kaffee, aber immerhin war die Strecke nun weitgehend eben. Jeder Anstieg wäre mir lieber gewesen als nochmal abwärts, der Brünigpass-Sinkflug steckte mir noch in Knochen und Muskeln.
Entscheid: Via Umbra statt Via Jacobi
Hinter Hofstetten mussten wir uns entscheiden:
- Biegen wir rechts ab und folgen wir der „offiziellen“ Via Jacobi am Nordufer des Brienzersees? Dafür sprach, dass es die offizielle Via Jacobi ist. Dagegen sprach die traditionelle Winter-Sperrung der Underweidligraben-Brücke bei Ebligen und dass ein großer Teil der Strecke (lt. Karte) straßennah und zersiedelt ist.
- Gehen wir geradeaus weiter und nehmen wir den Weg der drei Wasserfälle am Südufer? Gute Gründe waren a) weniger Kilometer bis Bönigen und b) weniger Sonne und Hitze. Was für ein Glück, dass „schattiger Weg“ Ende März ein Entscheidungskriterium ist!
Wir entschieden uns für die Südvariante und nach kurzer, windig-kalter Pause am Brienzersee wärmte uns die Strecke wieder sehr schnell auf: Auf einem kleinen, wenig befahrenen Sträßchen kämpften wir uns nach oben und der Mittagszeit entgegen.
Mahlzeit? Nö, Zu-Zeit.
Da war doch was? Genau: „Mittagessen nicht vergessen.“ Ein uriger Gasthof lockte schon von Weitem — und enttäuschte in der Nähe: Ruhetag.
Dann lockte eine große Werbetafel für das Grandhotel Giessbach. Ich war beeindruckt von dem parkartige Entrée, das vom offiziellen Wanderweg durchschritten wurde. Luis war mehr beeindruckt von den zwei Rehen, die dort dekorativ herumgrasten — und sehr plötzlich sehr schnell weg waren…
Meine Zweifel, ob Kleidung und Budget ins Hotel-Restaurant passen würden, hatten sich schnell erledigt: Das feudale Anwesen lag noch im Winterschlaf.
Wie ich bei der Recherche für diesen Artikel entdeckt habe, hätte vor allem ein Mitwanderer nicht ins Hotel-Restaurant gepasst (Quelle: Parkrestaurant Les Cascades):
Hunde sind in den Restaurants nicht erlaubt, wir bieten jedoch einen Hundesitting-Service an.
Nicht das Restaurant-Verbot wäre ein Problem geworden, sondern Luis: Nach dem Grandhotel-Hundesitting-Service hätte er sich kaum überzeugen lassen, wieder auf spartanisches Wanderleben umzuschalten…
Also weiter — erst mal zu den nahen Giessbachfällen, die an der Namensgebung für Wanderweg und Restaurant beteiligt waren. Ja, nett. Aber ehrlich: Das konnte dem dramatischen Getöse der Risletenschlucht nicht das Wasser reichen ;-).
Entscheid: Ein Wasserfall genügt, deshalb Uferweg
Möglicherweise war ich auch durch einen Wegweiser abgelenkt, der eine Alternative nach Iseltwald aufzeigte.
Uferweg oder 3-Wasserfälle-Weg? Beides war mit 1 ½ Stunden angegeben. Ich befand mich etwa 100 Meter über dem See, der eigentlich geplante 3-Wasserfälle-Weg stieg aber erkennbar weiter an.
Weiterer Anstieg = später mehr Abstieg, denn am Ende des Tages würde ich unweigerlich auf See-Niveau hinunter müssen. Mit dem Brünigpass-Sinkflug in den Knochen entschied ich mich für den Uferweg, auch wenn ich damit auf 67% der Wasserfälle verzichten musste: Lieber jetzt 100 Meter runter als später das Doppelte oder Dreifache.
Noch lieber wäre ich mit der Giessbachbahn hinuntergefahren — natürlich nicht aus Bequemlichkeit, sondern nur aus technisch-historischem Interesse: Es handelt sich um eine der ältesten Standseilbahnen Europas und war weltweit die allererste mit einer Ausweiche in der Streckenmitte (» Broschüre Giessbach Standseilbahn (PDF)).
Doch wie das Hotel hatte ich die Bahn noch Winterpause, deshalb konnte ich kühne Konstruktion von unten bestaunen. Hilfreich beim Abstieg war eine weitere Holzschlagsperrung, sodass ich statt des Wanderweges den etwas weiteren (= flacheren) Fahrweg nehmen musste/durfte. Schnell hatte ich die historisch bedeutsame Ausweiche über mir und wusste: Die Hälfte habe ich schon! Und wenige Minuten später konnte ich mich über das türkisfarbige Wasser des Brienzersees und die verwaiste Talstation der Bergbahn freuen.
Holzschlag-Poker und: Nummer 5 lebt!
Der Uferweg nach Iseltwald war idylisch, weitgehend eben, ruhig, naturnah und hatte durchaus ein paar spektakuläre Stellen. Ich bin sicher, dass das die bessere Wahl im Vergleich zum zersiedelten Nordufer war.
Vorort war ich mir aber (noch) nicht so sicher: Was wäre, wenn dort wieder spontan eine Holzschlag-Sperrung auftauchen würde? Dann müsste ich alles wieder zurück, wieder hoch zum Grandhotel und dann doch den Höhenweg nehmen, den ich hatte vermeiden wollen….
Doch wieder einmal hatte ich Glück: Da flatterte tatsächlich ein Stück Absperrband — neben dem Weg und nur ein kleiner Restfetzen. Es war offensichtlich: Hier muss kurz vorher ein größeres Baummassaker stattgefunden haben, aber jetzt war wieder alles frei und ich bald in Iseltwald.
Für eine Mittagspause war es eigentlich schon zu spät und doch zu früh: Ich kam heute an Restaurant Nr. 3 vorbei, doch das hatte bis 15:00 Uhr „Geschlossene Gesellschaft“. Kein Problem, es gab ja noch das Seehotel mit schöner Terrasse — und Ruhetag. Halllloooo, ich hatte kein richtiges Frühstück, bin seit fünf Stunden unterwegs und habe Hunger!
El Camino hatte mein verzweifeltes Rufen offensichtlich gehört und einen Wegweister zum Dorfpintli auf den Dorfplatz gestellt. Das Beste daran: Ein großes grünes Zusatzschild OFFEN! Das Allerbeste: Ich wurde sehr herzlich empfangen und durfte auf der sonnigen Terrasse Platz nehmen.
Dort habe ich gelernt, dass ein Käsesalat mit Wurst so gar nichts mit dem mir bekannten Wurstsalat mit Käse zu tun hat: Fein gehobelte Käsestücke, unter denen sich zwei schüchterne Bratwürste verstecken. Reisen bildet ;-).
Entscheid: Abwärts immer, aufwärts nimmer
Als Verdauungsspaziergang wartete hinter Iseltwald ein kleiner Aufstieg von 100 Höhenmetern nach Sengg auf uns. Das war in Ordnung — aber auch genug. Ich sparte mir weitere 250 Meter hoch und einen heftigen Abstieg am Ende: Statt 3-Wasserfälle-Weg entschied ich mich pragmatisch wieder für eine Art Uferweg, wenngleich dieser eine Straße war.
Das war mir egal, ich wollte einfach möglichst schnell und einfach am Ziel Bönigen ankommen. Und tatsächlich kamen wir schnell und einfach vorwärts, der Verkehr war sehr übersichtlich: In einer Stunde 13 PKW, 5 Jogger, drei Linienbusse, ein Bagger und ein Traktor — das war auszuhalten.
Hotel? „Interessant“ mit Seeblick
Bei der Planung hatte ich die heutige Etappe als „Monsteretappe“ bezeichnet, weil sie die längste unserer Via Jacobi 2019 sein sollte. Aber durch taktisch kluge Entscheide hatten wir (mindestens) 3 Kilometer und etliche hundert Höhenmeter eingespart.
Dennoch standen bei mir am Ende knapp über 40.000 Schritte auf dem Zähler; Luis dürfte die 100.000er-Marke geknackt haben. Entsprechend froh waren wir, unser Hotel direkt am Seeufer erreicht zu haben. Das war — ähm — sagen wir mal: „Interessant“ bis skurril, echt retro (nicht nur Retro-Design) und eine begehbare Erinnerung an meine Kindheit. Ein größerer Gegensatz zum Digitalwahn der vorigen Nacht war kaum vorstellbar.
Nun ja. Weshalb dieses Hotel doch (für mich) die richtige Wahl war, zeigte ein Blick vom Zimmerbalkon: Vor mir lag der Brienzersee und voller Länge und Pracht — und dahinter die Berggipfel, denen ich noch am Morgen so nah war.