Der heutige Tag war eigentlich der Höhepunkt der ganzen Woche: Von Allières hinauf auf den Col de Jaman, zum ersten Mal den Genfersee bestaunen und hinab an sein Ufer; mindestens bis Montreux und vielleicht weiter nach Vevey. Doch inzwischen war ich weniger ehrgeizig: Mein lädierter Knöchel würde mir schon zeigen, was geht (und was nicht).
Offenlegung: Aus technischen und medizinischen Gründen wurde dieser Beitrag knapp 2 Monate später verfasst und auf das Originaldatum zurückdatiert.
Ziegenmilch & Lagebesprechung
Der Morgen startete mit einem unerwartet großzügigen Frühstücksbüffet: Gefühlte 5 Meter Leckereien für mich (und zwei weitere Gäste), einschließlich frischer Ziegenmilch, die so gar nicht ziegig schmeckte.
Ein gutes Omen? Überlegen wir mal:
- Im Vergleich zu gestern morgen waren die Schmerzen etwas weniger. Das war vielversprechend — aber würde das für x Kilometer, y Höhenmeter Aufstieg und y Höhenmeter Abstieg reichen?
- Zu meiner (bzw. meines Fußes) Entlastung musste ich heute nur das nötigste Gewicht mitschleppen, weil ich — was für ein glücklicher Zufall — auch die nächste Nacht in gleichen Gasthof geplant hatte.
- Meine Wanderstrecke würde grob dem Verlauf der MOB-Bahnstrecke folgen, sodass ich notfalls abbrechen und per Zug wieder zurückkehren könnte.
Fazit: Einen Versuch war es wert, um doch noch ein Teil des Highlights der Woche zu erleben.
Teststrecke bis Les Cases
Die ersten Kilometerchen waren gleichzeitig Morgengassi- und Teststrecke: Bis zur MOB-Haltestelle Les Cases konnte ich ausprobieren, ob/wie es vorwärts geht. Dort verschwindet die Bahn im Col-de-Jaman-Scheiteltunnel und ich kann/muss mich entscheiden, ob ich den Aufstieg zum Pass wagen und es bis Jor am Tunnelende schaffen werde.
Laut Wegweiser würde ein normaler Wanderer pünktlich um 10:00 Uhr auf der Passhöhe ankommen. Ich würde wohl länger brauchen — gut so, denn dort liegt das Restaurant Le Manoïre, das ohnehin erst um 10:00 Uhr öffnet.
Auf historisch wertvollem Muli-Weg starteten wir gespannt Richtung Les Cases. Und mussten noch schneller umkehren als erwartet: Der Weg führte geradewegs über eine Weide, deren „Bewohner“ sich erst unauffällig zusammenrotteten, um uns dann entgegenzukommen. Wussten die etwa, was ich gestern Abend gegessen hatte?
Okay, dann halt ein geordneter Rückzug (die waren eindeutig in der Überzahl) und auf dem Fahrweg weiter. Das kam meinem Knöchel ohnehin entgegen…
Col de Jaman
Kurz später standen wir am Tunnelloch, alles bestens, also weiter hinauf. „Aus Gründen“ wählte ich auch hier die weiten Serpentinen des Fahrwegs statt des direkteren Wanderwegs. Das schonte meinen Haxen und streckte die Höhenmeter auf angenehme Steigungsraten.
Warum rotten sich Rinder nicht auf grünem Gras, sondern mitten auf dem Weg zusammen? Die Frage konnte nicht abschließend ausdiskutiert werden, sondern zwang uns zwei mal in unwegsames Gelände. Dergestalt abgelenkt fielen die vielen Höhenmeter kaum auf, erst ein Blick zurück zeigten unsere bisherige Tagesleistung.
Zwei, drei, vier Serpentinen später… :
- Überraschung 1: Wir waren plötzlich oben!
- Überraschung 2: Es war — trotz längerem Weg, Schmerz-Huf-Bremse und Rinderausweichen — Punkt 10:00 Uhr!
- Nicht überraschend, aber trotzdem „Wow“: Unter uns lag in dunstiger Ferne der Genfersee bzw. Genfer See bzw. Lac Leman.
In durstiger Nähe lag hingegen Le Manoïre, dessen Terrasse gerade erst besuchstauglich gemacht wurde. Als erster Gast des Tages belohnte ich mich mit dem verdienten Aufstiegs-Panache — und weil die gereichten Erdnüsse so salzig waren — noch ein zweites hinterher.
Beschwingter Abstieg
Lag es am Ausblick / an der Pause / an der Genugtuung, es geschafft zu haben — oder an den Panaches? Keine Ahnung, aber auch egal: Mit frischem Schwung ging es sachte wieder abwärts. Sehr sachte, denn auch auf dieser Passseite zog ich den stabilen Untergrund der Straße dem steinigen Wanderweg vor.
Den Wegweiser zum „Notnagel“ Jar ignorierte ich großzügig: Ich war gut zu Fuß und der Abstieg wäre unnötig abenteuerlich gewesen. Stattdessen spazierte ich — fast schmerzfrei und fast unbehelligt von Verkehr — Les Avants entgegen. Auch dort stünde — für alle Fälle — ein Bahnhof zur Rückfahrt nach Allieres bereit.
Unterwegs erfreute mich ein Self-Service-Fromage-Verkauf mit diebstahlsicherer Kasse, wo ich mit einem älteren Biker aus dem Wallis erst die Kaufmodalitäten und dann unsere Extrem-Gassi-Tour diskutierte.
Gorges des Chauderon
Mittlerweile war es ziemlich warm geworden, ich hatte allmählich genug von Teer unter den Füßen und der weitere Straßenverlauf hinab an den See würde durch dicht bebautes Terrain führen.
Da „providete el camino“ mal wieder: In Les Avants versprach ein Wegweiser einen Mountain Hiking Trail durch die Gorges des Chauderon.
Sollte ich es wagen? Ja, ich sollte: Ich war mit non-slip soles und weather-appropriate clothing bestens gewappnet. Zudem hatte ich einen Wanderstock zur Hand — ein zuhause getroffener Kompromiss zwischen Wanderstöcke-Mitnehmen oder Wanderstöcke-nicht-Mitnehmen, der sich jetzt als sehr schlaue Entscheidung entpuppte.
Und Luis? Er hat rutschfeste Pfoten, Allwetter-Fell — und freute sich auf spannendere und kühlere Strecke.
Der Abstieg in die Gorges ist anspruchsvoll und langwierig, wenn man jeden (rechten) Fußtritt sehr sorgfältig und vorsichtig setzt. Doch es hat sich gelohnt: Unten ein gut ausgebauter Wanderweg, frisch plätscherndes Wasser, üppiges Grün — und eine Wegweiser-Verzierung, die Rätsel aufgab: Hat sich hier jemand des inappropriate clothing entledigt? Oder nach Wäsche nach einer Wasserfall-Dusche zum Trocknen aufgehängt und vergessen? Oder eine Versuchsanordnung der lokalen Tourismus-Organisation um zu testen, wer das in einem Blog-Artikel erwähnt …?
Die Schlucht wurde tiefer und tiefer und grüner und grüner — die Felsen so dicht beblättert und umrankt, wie ich das in Europa noch nicht erlebt habe. Beeindruckend!
Und ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, zwei Betonspuren über unseren Köpfen: Die N9 quert das grüne Paradies und kündigt gleichzeitig dessen Ende an.
Mon dieu: Montreux!
Kurz später passierten wir die Zahnradbahn zum Rochers des Naye — mitten im Hochsommer mit irritierendem Père Noël.
Doch Père Noël konnte nicht verhindern , dass es heiß sehr heiß zu heiß geworden ist. Hier, in der Stadt, knallt die Sonne ungebremst in die Straßenschluchten; gleichzeitig heizt der schwarze Asphalt von unten.
Darum ohne großes Getrödel schnurstraks hinab ans Seeufer, freie schattige Bank an der Promenade finden, dasitzen und genießen: Den Blick über den See, das laue Lüftchen, den (inzwischen raclette-artigen) Käse vom Self-Service und die illustre Touristenschar, die hier herumpromeniert. Und erst jetzt begriff ich, was ich heute geschafft und erlebt habe.
Vorbei am Casino, hier noch ein kaltes Getränk, da noch ein mächtiges Eis, schlenderten wir zum Bahnhof, um mit der MOB wieder in eine andere Welt zurückzukehren: Vom mondänen und lebhaften Montreux ins alpine und entschleunigte Allieres.
Ausblick für morgen
Einzige Fixpunkte sind der Start am Bahnhof Montreux und die Zugtickets für mich und Luis am frühen Nachmittag ab Vevey.
Was dazwischen liegt, ist schwer einzuschätzen: Wie würde mein Knöchel den heutigen Tag verkraftet haben? Wie würde er auf auf Volllast (= Komplettgepäck im Rücken) reagieren? Wie heiß ist es vormittags und Mitte Juli am Genfersee? Viele Fragen, die morgen beantwortet sein werden.
Den Self-Service-Verkauf finde ich toll 😉 Liebe Grüße, Dario 🙂